Das ist doch nicht möglich! Zum unterschiedlichen Erleben von Frauen und Männern

Wie verschieden Männer und Frauen von ein und derselben Geschichte betroffen sein können, erlebte ich letzthin bei einem Familienseminar zum Thema „Zwischen Familiensinn und Eigensinn“.

Samuel soll dem Herrn gehören

Die Referentin, lud die Teilnehmenden ein, sich anhand biblischer Geschichten diesem Thema zu nähern. Eine der von ihr ausgewählten Bibelstellen war eine Erzählung aus dem ersten Buch Samuel.
Im ersten Kapitel dieses alttestamentlichen Buches finden wir eine Kindheitsgeschichte, die uns auf die spätere Bedeutung der Person von Samuel aufmerksam machen will. Da ist ein Mann mit zwei Frauen. Mit der einen Frau hat er schon viele Kinder. Die andere Frau, Hanna, die er mehr liebt, bleibt trotz großer Sehnsucht nach einem Kind, vor allem einem Sohn, kinderlos. Jedes Jahr geht die ganze Familie wallfahren. Stets nachdem der Priester das Opfer dargebracht hat, gibt der Mann seinen Frauen und seinen Kindern ihre Anteile. Bei dieser Gelegenheit ärgert und demütigt die mehrfache Mutter die kinderlose Nebenfrau, weil Hanna stets zwei Anteile von ihm bekommt. Hanna leidet sehr unter ihrer Situation und nutzt die Wallfahrt, flehentlich Gott um seine Hilfe zu bitten. Dies wiederholt sich Jahr für Jahr. Der Mann versucht seine Lieblingsfrau zu trösten: „Warum weinst Du?“ „Bin ich nicht mehr für Dich als zehn Söhne?“

Bei einer dieser Wallfahrten weissagt der Priester, dass sie bald einen Sohn bekommen werde. Sie bekommt tatsächlich einen Sohn, den sie Samuel nennt, was etwa bedeutet: „Gott hört“ oder „von Gott erbeten“, denn sie sagt sich: „Ich habe ihn vom Herrn erbeten.“ Bei der darauf folgenden Wallfahrt geht sie noch nicht mit. Sie eröffnet ihrem Mann, dass sie erst wieder mitgeht, wenn sie Samuel nicht mehr stillt. Dann wird sie ihn zum Priester bringen, und er wird für immer beim Herrn bleiben. So kommt es auch. Nach dem Opfer bringt Hanna Samuel, der noch sehr jung war, zum Priester. „Für sein ganzes Leben soll er dem Herrn gehören.“

Soweit die Kurzfassung dieser spannenden und ungewohnten Geschichte.

Unterschiedlicher Focus bei Frauen und Männern

Bei der Wochenendtagung erarbeiteten wir uns diese Geschichte in einer getrennten Frauen- und Männergruppe unter dem Thema „Festhalten und Loslassen“. Beide Gruppen näherten sich der Geschichte auf dieselbe Weise: Jeder Teilnehmer/jede Teilnehmerin identifizierte sich anhand eines Fragebogens mit einer Person aus der Erzählung und stellte sich in einem einfachen Rollenspiel dar. Anschließend teilten sich die Teilnehmenden – immer noch in getrennten Gruppen – ihre Gefühle und Assoziationen mit, die die Geschichte bei ihnen ausgelöst hat.

Das Hauptthema bei der Frauengruppe war die Trennung der Mutter von ihrem Kind bzw. ihren Kindern. Einigen Müttern mit kleinen Kindern ging das Thema so nahe, dass sie sich vorerst nicht darauf einlassen wollten. „Jetzt haben wir unser Kind erst bekommen. Ich will mich nicht schon mit der Trennung auseinandersetzen!“ „Gott könne so von einer Mutter einen solchen Schmerz doch nicht wollen!“

Die Männer setzten sich vor allem mit der Situation auseinander, zwischen zwei konkurrierenden Personen, Personengruppen zu stehen. Die Aufgabe, zwischen den zänkischen Frauen stehen und vermitteln zu müssen, d.h. den Hausfrieden einigermaßen herzustellen, wäre für die meisten die größte Herausforderung. Erinnerungen an eigene Situationen gab es genug: zu stehen zwischen seiner Frau und den Kindern, zwischen seiner Frau und der eigenen Verwandtschaft, zwischen Beruf und Familie ... Als ich als Gesprächsleiter auf die Trennung von Samuel hinwies, wurde dieses Thema als nicht bedeutend eingeschätzt. »Was heißt hier Trennung? Samuel ist ja nicht aus der Welt! Sicher wird er dort auch wichtige Erfahrungen machen können!“

Große Standfestigkeit und ein großes Selbstbewusstsein vorausgesetzt

Es braucht nicht viel Phantasie, um sich mögliche gegenseitige Vorwürfe, moralische Appelle,…auszumalen, würde zu Hause ein so gewaltiger Unterschied zwischen dem Erleben des Mannes und der Frau zutage treten. In so einem Gespräch über die Kinder könnte z.B. ein Vater seiner Frau vorwerfen:

  • Du musst die Kinder sowieso einmal abgeben. Denke daran, sie gehören nicht uns!
  • Du kettest die Kinder an Dich und machst sie damit unmündig!
  • Kinder müssen eigene Erfahrungen machen. Du beschützt sie viel zu viel!
  • Kinder sollen nicht so werden, wie Du willst, sondern wie es für sie richtig ist!

Die Mutter könnte ihrem Mann etwa vorhalten:

  • Du bist doch nicht in der Lage, eine richtige Beziehung aufzubauen! Dann ist klar, dass Du keinen Trennungsschmerz spürst!
  • Du bist herzlos! Unverantwortlich!
  • Die Hauptsache ist doch für Dich, dass es Dir gut geht!
  • Du hast keine Ahnung, was Kinder in dem Alter brauchen! Dich interessiert es ja auch nicht!

Wenn Mutter und Vater so unterschiedlich empfinden bzw. eine Situation so polar einschätzen, wird von beiden eine große Standfestigkeit und ein großes Selbstbewusstsein vorausgesetzt, wenn sie das Anderssein nicht als Angriff und Gefahr wahrnehmen und nicht mit Angriff oder Verteidigung reagieren.

Beide „Pole“ wichtig

Bei dem Seminar wurden die Paare zu einem Zweiergespräch eingeladen, bei dem beide nacheinander je 10 Minuten Zeit bekamen, von sich zu erzählen. Der/die andere hatte nur die Aufgabe, interessiert zuzuhören, und zwar nur, um zu verstehen und sich einzufühlen. Erst nach den 2 mal 10 Minuten sollten sie miteinander ins Gespräch kommen. In der Abschlussrunde mit allen Teilnehmenden betonten einige Paare, wie wichtig dieser Austausch für sie gewesen sei.

Für die Kinder jedenfalls wäre es von Vorteil, wenn beide „Pole“ in Kontakt zueinander kommen und bleiben und keiner als Verlierer das Feld verlässt.

Rudolf Mazzola